Wie wir die Welt sehen oder wie sich unsere visuelle Erkenntnis konstituiert
Der Mensch hat von Geburt an die Sinne erhalten, mit denen er die Welt wahr nimmt.
Einer dieser Sinne ist das Sehvermögen. Jedes gesunde Neugeborene kommt mit diesem visuellen Vermögen auf die Welt, kann aber trotzdem noch nicht sehen und erkennen. Das Neugeborene hat noch keinen Begriff davon, was es sieht. (Es erkennt nicht mal visuell seine Mutter, weil es noch keinen Begriff von der Mutter hat.)
Der Mensch erkennt nur das – sein Leben lang – wovon er weiß. Wovon der Mensch kein Wissen hat, das kann er nicht sehen. Er muss also von einem Stoff und dessen Form ein Vorwissen haben, um etwas als etwas zu identifizieren und es als dies oder jenes zu rekapitulieren. So lange ein solches Vermögen nicht vorhanden ist, wird der sehfähige Mensch nur begriffsstutzig gucken.
Nun hat uns Charles Darwin auf die Berücksichtigung und Erfahrung der Evolution gebracht, wonach die Welterkenntnis sich uns Menschen evolutionär einbrennt.
Der Philosoph Platon nennt das die „eingeborenen Ideen“. Der deutsche Philosoph der Aufklärung, Immanuel Kant, zeigt auf, wie die Erkenntnis der Welt in uns Menschen vorgeprägt ist. Man kann es bildhaft verdeutlichen, wenn man konstatiert, dass wir in unseren Sinnen eine schablonenhafte Vorprägung haben, in die unser sinnliches Erlebnis passen muss, damit wir es verstehen und erkennen. Manche nennen das die Idee-Materie-Matrize. Danach richtet sich auch unser Empfinden von Lust und Unlust. Es scheint also in einem Jeden vorgeprägt, ob er was gut oder schlecht findet oder ob es ihm egal ist. Er empfindet seine Welt als lustvoll, wenn sein Trieb, seine Begierde, befriedigt ist. Danach trifft er seine Werturteile (Hegel, PhdG). Je mehr man seine Sinne übt, desto mehr erweitert sich der Bereich des Geschmackes. Darüber schreibt Kant in seiner „Kritik der Urteilskraft“. So bleibt unser Kopf vorgeprägt, die Welt, die Dinge darin zu betrachten und zu erkennen.
Die neuste Forschung hat noch mehr festgestellt, wie sehr unsere Anschauungen vorbegrifflich in uns eingeprägt sind. Wie Denis Dutton, Professor für Kunstphilosophie an der University of Canterbury in Neuseeland, meint, ist „die Faszination, die künstlerische Virtuosität auf Menschen weltweit ausübt, kein soziales Konstrukt, sondern eine pleistozänische Anpassung (wie es sich auch jenseits der Kunst auch im Sport zeige). Dass Kalenderlandschaften weltweit abwechselnd Baumskelette, offene Räume, oft hügeliger Art, Wasser und Pfade oder Flussbänke zeigen, die sich in einer einladenden Distanz winden, ist eine landschaftliche Vorliebe des Pleistozäns (wie man allerorten sowohl in der Kunstgeschichte als auch in der Gestaltung öffentlicher Parks feststellen kann). Dass Seifenopern ebenso wie die griechische Tragödie das Thema des Familienzerfalls behandeln („Sie tötete ihn aus Liebe.“), spiegelt ein antikes ureigenes Interesse am Erzählen wieder“. („Gefährliche Idee“ S.89, Fischer 2009)
Weiter meint Prof. Dutton, die darwinistische Theorie hat viel zu „ästhetischen Grundfragen und Ursprünge der Kunst“ zu sagen. „So ist es unwahrscheinlich, dass alle Künste zur gleichen Zeit und zu bestimmten Zweck entstanden sind; vielmehr erwuchsen sie in achtzigtausend Generationen des Pleistozäns bis heute aus einander ergänzenden Interessen des Überlebens und der Partnerwahl. Unser Sehen, unser Hören, unser Sinn für Rhythmen, unsere Freude am künstlerischen Ausdruck, am Aufgehen in einem Publikum und nicht zuletzt unser Potential, uns von den Künsten mit ihrem Repertoire allgemein menschlicher Gefühle erregen zu lassen – das alles und mehr beleuchtet und erklärt eine darwinistische Ästhetik.“ (S.89)
„Die umfassendste evolutionär verankerte Erklärung eines - klassischen oder neueren – großen Kunstwerkes untersucht seine Form, seinen erzählerischen Gehalt, die Ideologie, seine sinnlich-geistige Wirkung und seine tiefe, sogar lebensverändernde Kraft, uns zu erbauen. Aber keine gültige Psychologie des Ästhetischen wird jeder Kunst ihren Reiz nehmen, wie ja auch das Wissen um unsere evolutionäre Vorliebe für Fettes und Süßigkeiten, ein Stück Käsetorte nicht weniger köstlich macht. Zu dem wird eine darwinistische Ästhetik die Komplexität der Kunst nicht auf simple Formeln bringen, sondern uns lediglich zu einem besseren Verständnis der größten menschlichen Leistungen und ihrer Wirkung verhelfen.“ (S.89 – 90)
Das sind sicher Aussagen, die einer heutigen Wissenschaft und ihrer Affektierung kräftig auf die Füße tritt, und zwar besonders auf die Füße, welche das menschliche Verhalten auf soziale Phänomene allein rückführen möchte. So, wie manche auch glauben, das Sexualverhalten sei durch soziale Einflüsse bedingt und man könne evolutionäre Vorprägungen von Jahrtausenden durch Umerziehung in eine neue gewünschte Form pressen. Ideologisch geformtes Ressentiment entbehrt jeder wissenschaftlichen Empirie, welche die evolutionären Erkenntnisse berücksichtigt. Eine Kunsttheorie bzw. Ästhetik, welche die Geschichte der Seh- und Erkenntnisgewohnheiten nicht berücksichtigt, muss scheitern. Die Geisteswissenschaften argumentieren da oft, Phantasie bedingt, überbordend und übergehen leichtfertig naturwissenschaftliche Erkenntnisse. (Die Gender-Theorie scheint daher naturwissenschaftlich unhaltbar.)
Denis Dutton schließt daher seine Betrachtung mit der Vermutung, dass es sich noch zeigen würde, „dass in den Geisteswissenschaften der letzten vierzig Jahre zahllose Karrieren für banale Politik und grässliche Kritik vergeudet wurden.“(S.90)
Man versteht also, dass unser Sehen, alles was wir sehen und wie wir es sehen mit durch die Evolution eingegebenen Befindlichkeiten zu tun hat. Die Landschaftsmalerei unserer Kultur schildert Regionen, in denen der Urmensch sich aufhalten und heimisch machen möchte. Die prähistorischen Völkerwanderungen hielten nach idyllischen und „reichen“ Gebieten Ausschau. Landschaft am Fluss bedeutet auch Niederlassung am lebenswichtigen Wasser. Bäume bedarf es als Fixpunkte zur Orientierung, auch zum Schutze vor Sonne oder Regen. Wald wie Urwald sieht man weniger in der Malerei, weil der Mensch sich wegen der dunklen Unergründlichkeit und Unübersichtlichkeit hier nicht wohl fühlt. Er spürt die Gefahr. Daher bedeutet die Lichtung eine entspannende Oase im Wald, und das Wort „Lichtung“ erhält diese Begriffsweitung. Schließlich erfährt der Mensch in der Lichtung das, was ihm im freien Feld entgegen kommt und weshalb er den aufrechten Gang übt. Er behält Übersicht und kann drohende Gefahren vom Weiten schon entdecken. Man versteht, weshalb Zukunftsplanung bereits als ein urzeitliches Phänomen erscheint.
Die von der Sonne beschienene Landschaft am Fluss, in einem leicht bewegten Tal mit zur Rast einladenden Bäumen rufen zwei Millionen Jahre alte Idealvorstellungen auf, die gerade die Malerei verarbeitet und symbolisch stilisiert wieder gibt. Auch der Sport gründet hier, weil es um die körperliche Beherrschung dessen geht, was der Naturzustand dem Menschen ab verlangt. Er soll schnell laufen, hoch und weit springen können, schnell reagieren können und stark wie geschickt sein. Diese Naturzustände übt und idealisiert der Mensch im Sport. Daher darf das Bedürfnis, der Erste, Beste sein zu wollen als urzeitliche Vorgabe verstanden werden. Elitenbildung war überlebenswichtig.
Aus solchen Zeiten stammt auch das Unbehagen vor dem Erhabenen, von dem Kant spricht. Große, für den Menschen unüberschaubare Naturphänomene lösen Ängste aus. Unwetter, Vulkane, große Wasser, wie Meere, Seen, Wasserfälle, Feuer weisen dem Menschen seine Grenzen auf. Daher wird so etwas selten gemalt und gezeigt. Kaum ein anderes Kulturphänomen ist so alt und archaisch ursprünglich wie die Malerei seit Zeiten der Höhlenmalerei. Es zeigt sich ein Bedürfnis, das Erlebte, Geschaute, sinnlich zu verarbeiten und beim Gestalten nach zu erleben. Wobei Affiziertes, von Lust und Unlust gesteuerte Gefühligkeit, ethnische Belange, seelische Verarbeitung, Affekte mitsprechen. Solche Vorprägungen wirken noch heute bei der Bildgestaltung mit. Davon ist der Künstler evolutionär vorbestimmt, seine Sicht gesteuert.
Der Urzeitmensch hatte sicher noch nicht so viele Ideen wie der Mensch der Neuzeit, es gab keine Philosophie, Religion, Geistes- und Naturwissenschaft. Vor allen kulturell-zivilisatorisch ethnoplastischen Übungen steht der Trieb wie die Begierde. Es ist der Trieb, den Hegel in der Phänomenologie des Geistes beschreibt. Mit der Begierde wird der Mensch sich seiner selbst bewusst, denn er spürt sein erwachendes Bedürfnis nach einem Ding. Es ist der Gegenstand, ein Objekt, der ihm entgegen steht, das Nicht-Ich. Die Begierde des Menschen richtet sich auf dies Nicht-Ich, es zu verwandeln und zu seinem zu machen. Es soll aus dem Nicht-Ich ins Ich geholt werden. Es handelt sich um ein dies Dasein negierende Begierde, also eine dies Dasein verwandelnde Tat. Das meinem Ich sich offenbarende Fremde soll ein neues Seiendes schaffen, indem es das Daseiende zerstört. Das Bild vor mir wird von mir einverleibt, nach meiner Fasson erkannt und meinem Ich gemäß gebildet. Die Welt, mit der ich konfrontiert bin, gerät mir zu meiner Welt, wird in meinem Ich aufgehoben.
Das geht nur daher so gut, weil mein Ich ein nach Inhalt lechzendes Leeres ist.
Der Höhlenmaler, ein jagender Mensch aus prähistorischer Zeit, will die von ihm gejagten Tiere in sich aufnehmen und mittels Höhlenmalerei lebt er diese Begierde optisch-haptisch nach. Höhlenmalerei zeigt die erste Form von Sublimierung dieser Begierde durch Zeichen, wobei man sich wundern muss, wie der Mensch auf die Idee kommt, ein Erlebnis im Raum der Welt auf einen zweidimensionalen Grund zu wandeln. Geht es doch bei dieser Wandmalerei um die Umwandlung von mit Begierde belasteten Dingen in symbolhafte Zeichen. Ist nicht das Umwandeln des menschlichen Lebens in Sprache und Zeichen, eine evolutionäre Vorgabe? Sind die menschlichen technischen Gegenstände nicht Hilfsmittel zum Umgang mit der Welt und Erfüllung der Begierde? Der Mensch betreibt ein negierendes Tun, das das Daseiende verwandelt und in diesem Verwandeln sich selbst verwandelt.
So bleibt der Mensch nie, was er ist und war. Sein wahres Sein ist sich perpetuierendes Werden, Zeit, Geschichte, und er wird, er ist Geschichte nur in der Tat und durch die Tat. Es gibt keine menschliche Existenz ohne dieses Bewusstsein und ohne Selbstbewusstsein, d.h. ohne Offenbarung des Seins durch das Wort und ohne eine das Selbst schaffende und offenbarende Begierde. (Alexandre Kojéve zu PhdG, S.142, 143 in Materialien zu Hegels PhdG Frankfurt 1973) So scheint die Sucht des Menschen nach Welterkenntnis und die Begierde, diese Sucht zu stillen, immanent seit Urzeiten. Weshalb der Zustand des Menschen als inkontingent begriffen werden muss. Der Mensch ist das, was die Geschichte der Welt aus ihm macht und er selber aus dieser Welt macht. Insofern ist der Rahmen der Erkenntnis vorgeprägt. Er erhält aber stets der Zeit und ihrem Diskurs entsprechende Variablen. Diese sind weniger sozial als vielmehr natürlich bestimmt, wobei auffällt, das ein unmittelbarer Zugang zur Natur nicht stattfindet. Das, was Rousseau meint, ist ein romantisches Ideal. Der Zugang zur Natur ist stets medial vorgeprägt, die Höhlenmalerei demonstriert das.
Das beweist auch ein Blick in die Geschichte der Landschaftsmalerei. Landschaftsmalerei ist ein Phänomen der Moderne. Bis zum Mittelalter hat es sie nicht gegeben. Sie setzt erst mit der Neuzeit, dem Barock, ein und deshalb, weil der Mensch seine natürliche Unmittelbarkeit zu verlieren beginnt. Natur versteht der Mensch so, wie man sie ihm, er sie sich, erklärt. Die einfache Naturbindung, wie Rousseau sie sich vorstellt, gibt es nicht. Allein das Tier lebt unmittelbar in der Natur. Der Zugang des Menschen zur Natur ist immer künstlich. Der Mensch versteht unter Natur, was die Evolution und der zeitgenössische Diskurs ihm dazu eingeben. Die Haltung zur Natur bleibt stets artifiziell. Den freien unvoreingenommenen Blick in die Natur gibt es nicht. Romantiker fassen die sie umgebende Landschaft beseelt auf und idealisieren sie. Daraus entkommt im Biedermeier die Betrachtung der Idylle und die Landschaftsmalerei berichtet von dieser Idylle als Fluchtpunkt für den kleinlichen Spießbürger, wohin er sich vor der unbehaglichen Welt zurückziehen kann. Der Impressionismus malt die Natur, wie am Fließband produziert, allein dem Reiz des Augenblicks verpflichtet; die Natur als etwas Offenes und Flüchtiges. Die Symbolisten docken wieder bei den Romantikern an und deuten Landschaft als mythischen Traum, um dem Fortschritt zu entfliehen. Gaugin flieht die ökonomische Vereinnahmung und träumt a la Rousseau von der Einfachheit und Unberührtheit der Natur, daher flieht er nach Tahiti in die Exotik. Im Höhepunkt der industriellen Revolution sehnt man sich zurück in die Übereinstimmung von Mensch und Natur und fasst die Landschaft als Seelenlandschaft auf , wie man es bei den Expressionisten erkennen kann. Nach dem Weltkrieg tritt die einem zweifelhaften Fortschritt geopferte Landschaft zerstört und leer entgegen. Sie wird ausgebeutet, verwahrlost, der Industrie wie dem menschlichen Nutzen ausgeliefert. So geraten Landschaftsbilder nach dem 2. Weltkrieg zu deformierten Traumlandschaften, die sich in reine Malerei auflösen, auf dem Kopf stehen, kubistisch zerlegt, in irrationalen Affekten missbraucht werden, wie es die neue wilde Malerei vormacht. Die „Land-Art“ ist auch nichts anderes als ein Naturbastelkurs für saft- und kraftlose, dem animalischen Unmittelbaren abholde Intellektuelle. Zeitgenössische Artisten können da mehr von dem Bauern lernen, der noch Restbezüge zur Natur erhält und weiss das sein ganzes Trachten von der Mitwirkung der Physik anhängt. Daher scheint auch unser menschliches Sehen, Erkennen und Begreifen seit ca. zwei Millionen Jahren, dem Pleistozän, psychisch-physikalisch vorbestimmt.