Museale Städte und stereotype Wohnsiedlungen

 

Wie das fremde Andere (Nicht-Ich) vom Eigenen (Ich) subsumiert und seiner Seele beraubt wird.

Die zeitgenössische Philosophie befasst sich momentan intensiv mit den Phänomenen der Kultur und ihrer Verwaltung. Es geht auch darum, die Geschwätzigkeit über „Multikulti“ zu entlarven. Slavoj Zizek stellt hierzu kritisch fest, „Kultur (ist) der Name für all die Dinge, die wir praktizieren, ohne wirklich an sie zu glauben, ohne sie ernst zu nehmen“ (Der neue Klassenkampf, Berlin 2015, S. 53). So wenig wie heutige Linksliberale an Religion wirklich glauben, so wenig glauben sie an die eigene Kultur. Das verkommt alles zu einer Tradition, die nicht mehr gelebt wird. Wer also „Multikulti“ sagt, meint eine oberflächliche entseelte Reminiszenz und hat mit wirklicher „Kulti“ nichts im Sinn. Für Kultur hat man doch Einrichtungen, ja eine ganze Kulturindustrie. Kultur und Religion betreiben doch nur einige, für altmodisch gehaltene, angestaubte Andere.
Da muss man sich nicht wundern, wenn die Psyche der Menschen sich in riesige leere Seelenräume verirrt. Alkohol, Drogen, Beruhigungsmittel und wohlfeile Ratgeber sollen die psychische Armut heilen und richten. Der Restbestand an Kultur wird ins Museum gebracht, geordnet und verwahrt.

Museen sind Archive der Kultur, meinen Zizeks philosophische Kollegen von Boris Groys bis Peter Sloterdijk. Was ins Museum kommt, ist dem aktuellen Diskurs entzogen. Museen sind allenfalls Orte, wo die Musen wohnen. Diese antiken Göttinnen küssen den Kulturbeflissenen, der da sammelt, pflegt und die zu bewahrenden Gegenstände sinnvoll ordnet, sodass sie der wissenschaftlichen Forschung zugänglich sind. So dienen Museen der Archivierung narrativer Determinationen. Hier zeigen sich pT (poetische Topografien) und m-t T (mathematisch technische Topografien) vereint. Es erscheint also alles das, was innerhalb unserer Allgemeinbegriffe aus Kapital-Technik-Medium kreiert und errechnet wird. Hier im Museum breiten sich alle die Erzählungen, Mythen, Sagen aus, wie Religion, Weltanschauung, Wissensbestände und biografisch-intime Narrative des weiten Feldes der Kunst wie Kultur bis hin zu biografisch-intime Geschichten. Peter Sloterdijk entblättert in seinen Betrachtungen über den ästhetischen Imperativ unter dem Titel „Weltmuseum und Weltausstellung“ die heutige Funktion des Museums und meint: „Die Musealisierung der Welt ist eine Folge der kapitalistischen Kulturrevolution...“ (ästhetischer Imperativ, Berlin 2014, S. 388), deren Beginn er im 18. Jahrhundert ortet. Es fällt auf, dass das Museum das Fremde, das Andere aufnimmt. Wobei das tradierte Nicht-Ich (das Andere) sich im Ich musealisiert. Diese Musealisierung des Nicht-Ich wandelt das Andere in meinen Besitz, in meine Eigenheit. Das Fremde gerät mittels Museum ins Eigene. So kommt es, dass das Fremde zum Eigenen, vom Nicht-Ich zum Ich mutiert. Womit das Ich das Nicht-Ich sich einverleibt.
Claude Lévi-Strauss würde diese Einverleibung mit dem Satz „Wir sind alle Kannibalen“ (Berlin 2014) kommentieren. Denn Kannibalismus ist nicht nur oraler Konsum des Anderen. Organspenden dürfen ohne Weiteres als moderne Form des Kannibalismus verstanden werden. Die Introvertierung des Anderen, seiner Organe, drückt diesen Kannibalismus aus. So hat das Museumswesen am Kannibalismus teil.

Allerdings sollte man bedenken, dass die Aufnahme und Einvernahme des Anderen im Museum eher rein kognitiv bleibt. Wirklich intentional gerät sie nie. Das heißt: Diese andere Kultur wird nicht gelebt. So verhält sich das auch mit Multikulti. Multikulti geht Richtung Kulturverflachung. „Kulti“ bleibt eine Reminiszenz der ursprünglichen tief- und umgreifenden Kultur im Sinne von Kult. „Kulti“ verflacht den Kult zur stereotypen Schablone. Man hat sich nicht einmal mit den eigenen Wertigkeiten befasst und will schon neue Normen, die man nicht wirklich versteht, ausmachen. Es fällt auf, dass viele Argumentationen pro Multikulti auf die Vielfalt der Küche verweisen. Es erweist sich damit,
die eben angesprochene, kannibalische Latenz. Zizek verweist ja auf die linksliberale Oberflächlichkeit und Wuschigkeit in Sachen Kultur und verurteilt diese unernste liberale Schwäche. Da geht es nur um Unschärfe im „Verwischen der wahren Trennlinien“ (S. 53 ff). Der linksliberalen Gemeinde ist es allein um den Konsum zu tun. Die Errichtung von Museen hat daher auch etwas mit Verbraucherinformation zu tun. Museen betreiben Public-Relations für Kultur.
Das An-Sich übernimmt mittels Museum das Für-Sich (das Andere). Das neue, zu bearbeitende Andere in mir, bedeutet die Aufhebung ins An- und Für-Sich. Hegel lässt grüßen. Mittels Museum also gelangt die Antithese in die Aufhebung. Wobei „Aufhebung“ in Zusammenhang mit Museum ein schöner und bezeichnender Begriff ist.
Im Museum präsentieren sich narrative Determinationen, welche zum großen Teil fremder Topologie entkommen. Es gibt allerdings zwei generelle Topografien, nämlich die schon erwähnten Narrative aus der pT und der m-t T. Sloterdijk spricht stets von den Erzählungen, welche das Museum präsentiert. Boris Groys präzisiert, Geschichten wie
die der Kunst, zielen auf das Museum und bleiben so lange präsent, wie sie den Diskurs unterhalten. Sollten sie vergehen, indem der Diskurs darüber abnutzt, sich aufbraucht oder gänzlich aufgehoben ist, gelangt das aus dem Diskurs gekommene Museale in die Depots. Ja das, was lange in den Depots lagert und sie überfüllt, fliegt raus und kann dann geschreddert werden. Das heißt nichts anderes, dass die Kultur des kapitalistischen Westens sich an Angebot und Nachfrage orientiert.

Peter Trawny, Philosophieprofessor in Wuppertal (Technik-Kapital-Medium, Berlin 2015, S.123 ff) macht darauf aufmerksam, dass in den Museen nicht nur alte Narrative, die pT (poetische Topografie), vorhanden sind, sondern auch die m-t T (mathematisch technische Topografie). Denn unsere mathematisch-technische Welt, von den Universalien Kapital-Technik-Medium unterstützt, wirkt bis in die Museumslandschaft hinein. Es werden nicht nur überkommene Kulturen konserviert, sie werden auch mathematisch-technisch verwaltet und der Geldwirtschaft zu geführt. Das expansive Museum macht die ganze Welt mit ihrer Geschichte, ihren Traditionen, ihren bekannten Phänomenen zum Museum, worin bekanntlich eine evidente Wertebestimmung aus Mathematik und Technik waltet, ermöglicht durch das dies finanzierende Kapital. Das Museum gerät zur Welt und zwar so sehr, dass selbst Zerstörung wie Niedergang im Weltmuseum präsent sind. Die historischen Städte, einst von dort sozialisierten und kultivierten Menschen geprägt, erzählen sich selbst. Sloterdijk nennt Kultur eine „ethnoplastische Übung“ („Im Schatten des Sinai“, Berlin 2013). „Mein Ort“ degeneriert zum Touristenmagnet. Das m-t T sorgt dafür, dass der ursprüngliche Ethos, seinen angestammten Topos verliert. So etwas nährt den internationalen Transitraum. Darin bleibt der Mensch Universal-Subjekt und zwar zum Universal-Subjekt des K-T-M. Hier kann dies Subjekt nur als indifferentes Subjekt im Universal bestehen. Schon die mediale Seite sorgt für die Indifferenz. In dieser bleiben alte Narrative als Reminiszenzen konserviert, sie fundieren die pT. (Die gesamte internationale Politik lebt aus diesen Reminiszenzen der pT.) Jedoch organisiert wird das Ganze durch die m-t T. Solcher Konservierungsvorgang bewirkt auch die Entleerung der Monumente. Diesen nun entleerten und ihres ursprünglichen Sinnes beraubten Werte verlieren ihre Belebung. Wie Martin Heidegger schon sagt, die Pyramiden stehen zwar noch am alten Ort, dieser Ort hat aber seinen Ethos verloren. So wie man von einer „christlichen Welt“ spricht, obwohl sie nicht mehr im linksliberalen indifferenten Subjekt lebt. Slavoj Zizek hatte bereits darauf hingewiesen. Ja selbst die indifferente Linke hat sich ins Museum begeben, wo Zizek und Groys heftigst bemüht sind, sie wieder aus der Konservierung heraus zu holen.
Wo die gelebte Gemeinschaft im Museum aufgehoben wird, gerät das Andere zur leeren Hülle. So fließt der Tourismus spurlos durch die entleerten Monumente. Trawny und Kollegen sehen hier Erinnerungsstätten narrativer Determinationen. Dabei geht’s um allgemeine Erzählungen, also Mythen wie Religionen und Ideologien.

Aber auch alte, besondere Städte, stellen Orte vergangener Mythen dar. Noch mal, der sie besuchende Tourist „fließt spurlos durch die entleerten Dokumente“ (Trawny S. 124). Berlin kann da als gutes Beispiel für ein entleertes Dokument gelten. Diese Stadt hat nichts mehr mit ihrer verlebten Vergangenheit zu tun, einer Vergangenheit als europäische Industriemetropole auf dem Höhepunkt der industriellen Revolution. Das ist spätestens seit dem zweiten Weltkrieg vorbei. Heute spielt sie als museale Hauptstadt nur noch eine Rolle für den touristischen Besucher alter Erzählungen. Sie hat ihre pathologische Vorstellung als „deutsche Reichshauptstadt“ verloren. Sie existiert als „lebende Mumie“ im K-T-M. Anderen europäischen Hauptstädten geht es da nicht viel anders in der pT. Besonders augenfällig zeigt sich diese Entwicklung im Mittelmeerraum, der einstigen „Wiege der Kultur“ (Trawny S. 125), welche ein einziges gigantisches Objekt des Tourismus geworden ist.

Museale Städte und stereotype Wohnsiedlungen, der Unterschied zwischen Tourist bzw. Flüchtling und Einheimischem ist gleich der Differenz zwischen Exemplar und Individuum. Die Individuen sind die Bewohner der Museen, weil die Biologie sie geprägt hat. Die Exemplare entkommen den globalen Migrationströmen, sind durch menschliche Technik geformt. Der global orientierte Mensch stellt ein Exemplar des Globalismus dar. Er entspringt als indifferentes Subjekt dem globalen Universal aus K-T-M (Kapital, Technik, Medium). Ein Individuum bewohnt das museale Monument der pT. Das Museum sammelt die von der Zeit überholten Individuen. Es lässt sie nur frei als Exemplare des Universalen (was der Flüchtling zwangsläufig ist). Das Individuum entkommt der Physis (Natur), das Exemplar der Technik.
Da kann man, vielleicht etwas überspitzt, schließen, dass die naturgegebene Kultur ihrer Vitalität beraubt wird und unter dem Schlagwort „Multikulti“ in den Unernst universaler Exempel normiert wird. Im Weltmuseum wird das oberflächliche von seinem Trieb geleitete subjektive Exemplar das Andere aufsaugen und seiner Seele berauben.

PT = poetische Topografie (Mythen, Geschichten, Kultus, Ideologie, Religionen)
m-tT = mathematisch technische Topografie